Migranten – eine Zielgruppe für Leichte Sprache?

Migranten gelten als Zielgruppe für Leichte Sprache. Der gebürtige Braunschweiger Linguist Prof. Dr. Uwe Hinrichs beschreibt Migranten und ihren sprachlichen Hintergrund in seinem Buch „Multi Kulti Deutsch – Wie Migration die deutsche Sprache verändert“. Bettina Mikhail vom Verbund Leichte Sprache Braunschweig hat das Buch gelesen und fragt: Können Migranten tatsächlich von Leichter Sprache profitieren?

Das darf man nicht unter dem [!] Teppich kehren: Unter dem Einfluss von Migrantensprachen und Vereinfachungstendenzen bei deutschen Muttersprachlern entfernt sich die gesprochene deutsche Standard-Umgangssprache vom geschriebenen Standard. Die Veränderungen wandern langsam ins schriftliche Deutsch der Medien und der Literatur. Man findet in der Tagespresse schon Formulierungen wie „… Milliardäre, die nur ein [!] Bruchteil ihres Einkommens versteuern müssten“ oder „…deren Beschäftigungsverhältnisse immer unsicher [!] werden“ (Braunschweiger Zeitung vom 26.8.2017).

Menschen mit Migrationshintergrund, die „(noch) nicht gut Deutsch sprechen“, gelten als Zielgruppe von Leichter Sprache. Aber was heißt heute „gut Deutsch sprechen“? Und inwiefern kann Leichte Sprache für Menschen mit Migrationshintergrund hilfreich sein?

 

Leichte Sprache

Leichte Sprache ist maximal vereinfachtes Deutsch mit reduzierter Grammatik, einfachem Wortschatz und Bebilderung. Schriftliche Information wird so aufbereitet, dass sie von Personen mit Leseschwierigkeiten selbständig aufgenommen werden kann. Für manche Menschen ist Leichte Sprache ein Durchgangsstadium, bei anderen lässt sich die Lesefähigkeit aus unterschiedlichen Gründen nicht verbessern. Für manche Leser müssen Texte nur sprachlich vereinfacht werden, für andere sprachlich und inhaltlich. Leichte Sprache nutzt Strukturen der Mündlichkeit. Sie ist eine „Sprache der Nähe“, wodurch sie sich von der „Sprache der Distanz“ schriftlicher Texte in Standardsprache unterscheidet.

 

Leichte Sprache ist reglementiert

Für Leichte Sprache gibt es Regelwerke, die vorwiegend aus der Praxis entstanden sind. Empirische Untersuchungen, die diese Regeln bestätigen oder widerlegen könnten, gibt es bisher nur wenige. Die Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim hat die Regelwerke einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Daraus entstanden Hypothesen und Empfehlungen, die zwar nicht den Status von Übersetzungsregeln haben, in der Praxis des Übersetzens von Texten in Leichte Sprache aber als Grundlage verwendet werden können. Diese Empfehlungen finden sich detailliert im „Duden Leichte Sprache“. „Leichte Sprache“ wird im Folgenden so verstanden, wie sie die Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim beschreibt.

 

Einfache Sprache

Von Leichter Sprache muss einfache Sprache unterschieden werden, die etwas komplexere grammatische Strukturen zulässt, z.B. Nebensätze. Für einfache Sprache gibt es keine Regelwerke. Man sieht häufig Texte, die angeblich Leichte, in Wirklichkeit aber einfache Sprache sind.

 

Zielgruppen für Leichte Sprache

Leichte Sprache wurde von und für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt und sollte ursprünglich schriftliche Informationen für eben diese Zielgruppe sprachlich und inhaltlich verständlich machen. Mittlerweile wird Leichte Sprache für weitere Zielgruppen mit eingeschränkter Lesefähigkeit als sinnvoll erachtet. So können Texte in Leichter Sprache auch beispielsweise für prälingual Gehörlose, Aphasiker, Legastheniker, Autisten und funktionale Analphabeten hilfreich sein. Menschen mit Migrationshintergrund werden ebenso zur Zielgruppe der Leichten Sprache gezählt.

 

Menschen mit Migrationshintergrund

Als Menschen mit Migrationshintergrund werden alle seit 1949/1950 in Deutschland eingewanderten Personen und ihre Nachkommen bezeichnet. Man unterscheidet zwischen Personen mit eigener Migrationserfahrung (Migranten erster Generation) und solchen ohne eigene Migrationserfahrung (Migranten zweiter, dritter und vierter Generation). Insgesamt sind das ca. 16 bis 17 Millionen Menschen. Die Hälfte davon ist in Deutschland geboren und hat die deutsche Staatsangehörigkeit.

 

Deutsch als Zweitsprache

Bei den Zielgruppen für Leichte Sprache sollte man meines Erachtens zwischen Personen, deren Muttersprache auf demselben Sprachsystem wie die Leichte Sprache (also Deutsch) beruht, und Personen, deren Muttersprache auf einem anderen Sprachsystem basiert, unterscheiden. Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leitet sich die Leichte Sprache aus ihrer Muttersprache ab, für Menschen mit Migrationshintergrund ist Deutsch und damit auch Leichte Sprache Zweit- oder Fremdsprache. Deutsch als Zweitsprache (DaZ) wird weitgehend ohne Unterweisung in einer deutschsprachigen Umgebung erworben und für die Alltagsbewältigung genutzt. Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird in einer nicht deutschsprachigen unterrichtlich gesteuerten Umgebung und ohne aktiven Gebrauch im Alltag gelernt. Als Zielgruppe für Leichte Sprache gelten Menschen mit Deutsch als Zweitsprache, auch wenn Texte in Leichter Sprache beim Erwerb von Deutsch als Fremdsprache sinnvoll sein können.

 

Lesefähigkeiten

In einer Befragung von Migrantengruppen (RAM-Studie, 2006/2007) ergab sich, dass 30% der Befragten mittelmäßig oder schlecht Deutsch lesen können. Kann Leichte Sprache den Zugang zu schriftlichen Informationen, die Lesefähigkeiten und den Hinzuerwerb von Deutschkenntnissen verbessern? Vor allem Geflüchtete, die nicht nur über wenig oder gar keine Deutschkenntnisse, sondern nach einer neueren Studie („Geflüchtete Familien“ GeFam/IAB, BAMF-FZ, SOEP, DIW) zu 56 Prozent auch über ein nur geringes Bildungsniveau verfügen, können sicherlich nach ersten Deutschkursen von Leichter Sprache profitieren, z.B. bei Behördengängen, wenn Texte in Leichter Sprache verfügbar sind. Aber ist Leichte Sprache auch für Migranten, die schon länger in Deutschland leben, sinnvoll?

 

Multi Kulti Deutsch

Zehn Millionen Menschen in Deutschland verwenden jeden Tag noch eine andere als die deutsche Sprache. In seinem Buch „Multi Kulti Deutsch“ (2013) zählt Professor Dr. Uwe Hinrichs als Migrantensprachen in der Reihenfolge ihrer Verbreitung folgende Sprachen auf: Türkisch, Arabisch, Russisch, (serbisches, kroatisches und bosnisches) Jugoslavisch, Albanisch sowie weitere Balkansprachen wie Griechisch, Rumänisch und Bulgarisch. Deutschland ist ein mehrsprachiges Land, was im Bewusstsein vieler Menschen ohne Migrationshintergrund noch nicht angekommen ist. Die Mehrsprachigkeiten bestehen aus der jeweiligen Migrantensprache und Deutsch – vor allem also Türkisch-Deutsch, Arabisch-Deutsch und Russisch-Deutsch. Hinrichs beschreibt, wie Migration die gesprochene deutsche Sprache verändert. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme, die Forschungssituation derzeit noch mangelhaft.

 

Migrantendeutsch

Viele Migranten sprechen nicht die deutsche Standardumgangssprache, sondern ein Deutsch mit mehrsprachigem Hintergrund. Wie Hinrichs schreibt, trennen ältere Migranten noch zwischen Erst- und Zweitsprache, während die mehrsprachige zweite, dritte und vierte Generation die Sprachmodule vernetzt. Vor allem türkische und russische Sprecher vermischen beide Sprachen häufig.

„Migrantendeutsch“ bezeichnet die deutschen Varietäten von Menschen mit Migrationshintergrund. Seine Sprecher sind mindestens zweisprachig oder haben zwei Muttersprachen und gebrauchen beide (oder sogar noch mehr) Sprachen gleichzeitig. Es gibt viele Varianten von Migrantendeutsch, weil die Deutsch-Kompetenzen von Migranten sehr unterschiedlich sind. Historisch betrachtet reichen sie vom Gastarbeiterdeutsch um 1970, das elementare Kommunikation ermöglichte, bis zu einem fast muttersprachlichen Umgangsdeutsch in der Gegenwart. Die radikale Vereinfachung der deutschen Grammatik, die das Gastarbeiterdeutsch kennzeichnet, kehrt im Migrantendeutsch, in Ethnolekten, im Akzent der Migranten – und im Sprachwandel des modernen Neudeutschen wieder.

 

„Hab’ ich Auto gekauft“

Der Zugang zur deutschen Sprache ist abhängig vom Sprachtypus der Muttersprache. Je nach ihrer Struktur gibt es ein unterschiedliches Bewusstsein für Eigenheiten der deutschen Sprache. Es gibt typische Abweichungen im Deutschen, die sich aus den Besonderheiten der Muttersprachen erklären lassen:

Wer wie im Arabischen nur einen einheitlichen Artikel und kaum Kasus (grammatische Fälle) kennt, wird Mühe mit dem richtigen Artikel und der korrekten Anwendung der Kasus im Deutschen haben. Gibt es gar keinen Artikel wie im Russischen, entstehen Sätze wie „Hab ich Auto gekauft“. Wenn wie im Türkischen keine Präpositionen als einzelne Wörter im Satz existieren, kommen deutsche Sätze wie „Ich geh’ Schule“ heraus. Ist in der Muttersprache eine andere Satzstellung als im Deutschen (Subjekt-Verb-Objekt SVO) üblich – z.B. „Subjekt-Objekt-Verb“ (SOV) wie im Türkischen oder „Verb-Subjekt-Objekt“ (VSO) wie im Arabischen -, wird die Wortfolge unter Umständen auch im Deutschen verdreht.

So zeichnen sich multikulturelle Jugendslangs durch fehlende Artikel, Präpositionen und Pronomen, falsche Präpositionen, falsches Genus, andere Wortfolge aus – Veränderungen, die man aktuell auch in der deutschen gesprochenen Standard-Umgangssprache beobachtet. Vieles läuft auf sprachliche Reduktion hinaus, um mit möglichst geringem Aufwand den maximalen kommunikativen Effekt zu erzielen. Ein Beispiel ist das mittlerweile auch bei deutschen Muttersprachlern sehr verbreitete „Kurzdeutsch“, das Diana Marossek in ihrem Buch „Kommst du Bahnhof oder hast du Auto?“ beschreibt und das beispielsweise durch das Weglassen von Präpositionen und Artikeln gekennzeichnet ist. Eine von Marosseks Unterüberschriften bringt es auf den Punkt: „Ist das Grammatik, oder kann das weg?“

 

Vereinfachungstendenzen

Hinrichs beschreibt, wie Migration dazu führt, dass sich die gesprochene Sprache deutscher Muttersprachler verändert: „Kontakt ist der Motor allen Sprachwandels“. Alle Sprachen Europas wandeln sich mit der Zeit zu Sprachen, die aus kommunikativer Notwendigkeit eine zu komplizierte Grammatik abbauen und durch einfachere Strukturen ersetzen. Die meisten Migranten sprechen zusätzlich Englisch, eine kasuslose und grammatikarme Sprache, die die Tendenz zur Vereinfachung noch verstärkt. Durch die zunehmende Mehrsprachigkeit in Deutschland vereinfacht sich auch das Deutsche, denn das, was man für die Verständigung nicht unbedingt braucht, wird „abgeschliffen“ oder beseitigt, und vieles wird dem Kontext überlassen. So reduziert intensiver Sprachkontakt z.B. die Kasussysteme. Die Sätze werden kürzer, und es werden weniger Nebensätze verwendet – was auch ein Kennzeichen von Leichter Sprache ist. Meiner Ansicht nach könnte der vermehrte Einsatz von Leichter Sprache diese Tendenz weiter beschleunigen.

 

Leichte Sprache für Migranten?

Inwieweit kann Leichte Sprache mit ihrem Anspruch, verständlich zu sein, den oben beschriebenen sehr unterschiedlichen Zugängen zur deutschen Sprache gerecht werden? Soll und kann man die Regeln der Leichten Sprache, die ursprünglich für Muttersprachler mit kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt wurden, unverändert auch bei Texten für Migranten anwenden? Kann Leichte Sprache nicht nur neu Eingewanderten schriftliche Informationen verständlich machen, sondern auch für schon länger in Deutschland lebende Migranten hilfreich sein? Anhand ausgewählter Merkmale der Leichten Sprache versuche im Folgenden, mich diesen Fragen anzunähern.

 

Die Genitivregel der Leichten Sprache

Leichte Sprache kommt dem Sprachgebrauch von Migranten entgegen. Dies soll am Beispiel des Genitivs erläutert werden. Eine Regel der Leichten Sprache besagt, dass der Genitiv durch eine Formulierung mit der Präposition „von“ ersetzt werden muss. Statt z.B. „das Auto meines Vaters“ muss es in Leichter Sprache heißen: „das Auto von meinem Vater“.  Auch Migranten tendieren zu Formulierungen mit Präpositionen statt zu komplizierten Kasus. Die Genitivregel der Leichten Sprache könnte das Absterben des Genitivs noch beschleunigen, der jetzt schon in der mündlichen Sprache im Verschwinden begriffen ist. So wird er häufig durch den Dativ oder eine Formulierung mit „für“ + Akkusativ ersetzt, z.B. statt „die Zukunft der Banken“ sagt man dann „die Zukunft für die Banken“.

 

Zeitformen

Im Russischen existieren streng genommen nur zwei Zeitformen: Gegenwart und Vergangenheit. Der Ausdruck für eine abgeschlossene Handlung entspricht etwa dem deutschen Perfekt. Im Jugoslavischen gibt es ebenfalls nur noch eine Zeitform für die gesamte Vergangenheit: das Perfekt. Auch Leichte Sprache verwendet nur Gegenwart und Perfekt und kann damit alle deutschen Zeitformen ausdrücken. Insofern müsste Leichte Sprache schon allein wegen dieses Aspekts beispielsweise für russische und jugoslavische Migranten gut verständlich sein.

 

Bindestrich und Mediopunkt

Der Sprachwandel im Deutschen schließt auch neue Wortmuster ein. Statt „Privatleben“ heißt es „privates Leben“ – eine Tendenz, die sich auch in der Leichten Sprache findet, die lange Wortungetüme meidet. Für die Segmentierung langer zusammengesetzter Hauptwörter wird in der Leichte-Sprache-Praxis gerne die Bindestrichlösung verwendet („Privat-Leben“), die aber häufig grammatisch nicht korrekt ist und von der Forschungsstelle Leichte Sprache Hildesheim durch den Mediopunkt ersetzt wurde („Privat·leben“). Es ist zu überlegen, ob für die Zielgruppe der Migranten, die häufig aus der Muttersprache heraus zur Zergliederung von Wörtern und Sätzen neigen, bei Leichter Sprache auf eine Segmentierung verzichtet und statt dessen vorzugsweise ein neues Wortmuster verwendet werden sollte, z.B. statt „Spitzen·kandidatin“ eher „Kandidatin an der Spitze“, statt „Apfel·kuchen“ eher „Kuchen aus Apfel“, statt „Eltern·sprech·tag“ „Sprechtag für die Eltern“. Zergliederte Ausdrücke sind laut Hinrichs dem zweisprachigen Milieu besser angepasst, weil sie sich leichter bilden lassen, transparent und einfacher sind. Dies könnte eine erste spezifische Anpassung der Leichte-Sprache-Regeln an die Bedürfnisse von Migranten bedeuten.

 

Der Spatz in der Hand

Eine weitere Regel der Leichten Sprache ist das Metaphern-Verbot. Hinrichs beschreibt, dass viele Wendungen, Sprichwörter und Redensarten über ganz Europa verbreitet sind. Migranten aus Europa, vor allem integrierte Migranten der zweiten und dritten Generation, hätten daher ein Sprichwort oder eine Metapher nicht nur in Deutsch parat, sondern kennen sie aus anderen Sprachen, dem Englischen, Russischen, Bosnischen, zum Beispiel „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ (deutsch) und (übersetzt) „Besser einen Spatz in den Händen, als einen Kranich am Himmel“ (russisch). Die Phraseologien weichen allerdings etwas voneinander ab und führen dazu, dass im mündlichen deutschen Sprachgebrauch die Floskeln verändert werden. Möglicherweise sollte das Metaphernverbot bei Leichter Sprache für Migranten aus Europa entfallen, während es bei Sprechern aus einem anderen Kulturkreis wie der Türkei, wo es kaum ähnliche Sprichwörter gibt, beibehalten werden könnte.

 

Sprachpflege

Würde Leichte Sprache für Migranten die „neue Mündlichkeit“ aufgreifen, wäre sie unter Umständen noch verständlicher für die Zielgruppe. Dazu müsste sie ggf. die bisherige grammatische Standardnorm, zum Beispiel bei der Wortstellung, verletzen: „Und dann sie gehen weg“,  oder „Wir sind beide gegangen in das Haus“.  Man müsste hier entscheiden, ob der Zweck (maximale Verständlichkeit) die Mittel (Verletzung der Standardnormen) heiligen sollte. Aus sprachpflegerischer Sicht ist es vorzuziehen, dass sich Leichte Sprache weiterhin an die klassische Schriftsprachennorm hält.

 

Die Welt in Bildern

Der Leichten Sprache wird manchmal vorgeworfen, durch inhaltliche Vereinfachung die Welt nicht mehr exakt zu beschreiben. Hinrichs ist der Ansicht, dass der Anspruch, die Welt durch Sprache möglichst genau zu beschreiben, heutzutage gar nicht mehr besteht: Botschaften würden mehr und mehr durch Bilder vermittelt, weil viele Menschen sie besser verstehen. Genau das macht auch Leichte Sprache, wenn sie komplizierte Begriffe visuell verdeutlicht. Damit liegt sie offensichtlich im Trend. Das könnte aber auch zu einer weiteren Verarmung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit führen.

 

Kann Leichte Sprache die Deutschkenntnisse verbessern?

Leichte Sprache nutzt Strukturen der Mündlichkeit, hält sich aber an die klassischen grammatischen Normen der Standardsprache. Der Zweck der Leichten Sprache liegt vor allem darin, schriftliche Informationen verständlich zu machen. Könnte Leichte Sprache bei Migranten einem weiteren Ziel dienen, nämlich ein stärkeres Bewusstsein für hochsprachliche Normen erzeugen, für das, was „richtig“ ist, und die Sprachkenntnisse verbessern? Ich denke, dies ist eher nicht der Fall. Viele grammatische Strukturen, wie z.B. Pronomen, Nebensätze, Genitiv, die Migranten Probleme bereiten, werden bei Leichter Sprache umgangen und durch reduzierte Formen ersetzt, so dass sie auch nicht durch Lesen eingeübt werden können.

 

Die Zielgruppe differenzieren

Man sollte die Zielgruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“ daher differenzieren. Mir scheint, dass Texte in Leichter Sprache (unter Beibehaltung der grammatischen Standardnormen und ggf. an den muttersprachlichen Zugang zum Deutschen angepasst) besonders für Geflüchtete mit geringen Deutschkenntnissen geeignet sind. Hier steht der Aspekt im Vordergrund, schriftliche Information maximal verständlich aufzubereiten. Menschen mit Migrationshintergrund, die teilweise schon in vierter Generation in Deutschland leben, sind möglicherweise bei Leseschwierigkeiten mit einfacher Sprache besser bedient, weil sie auch die Sprachkenntnisse verbessern könnte. Einfache Sprache formuliert nicht nur verständlich, sondern verwendet mehr grammatische Strukturen der Standardsprache und könnte ein größeres Bewusstsein für die Strukturen der deutschen Sprache schaffen. Im Idealfall müssten schwierig formulierte Texte daher routinemäßig nicht nur in Leichte, sondern parallel dazu auch in einfache Sprache übertragen werden, um beiden Zielgruppen das Lesen und Verstehen zu erleichtern.

 

Fazit

Leichte Sprache scheint mir besonders geeignet für neu in Deutschland angekommene Menschen wie Geflüchtete, die nur wenig Deutsch können. Man könnte dafür die Regeln vermehrt an die Zielgruppe anpassen, um den muttersprachenspezifischen Zugang mehr zu berücksichtigen, z.B. durch vermehrten, aber immer noch „korrekten“ Gebrauch von Konstruktionen mit Präpositionen statt der Kasus oder neue Wortmuster statt Segmentierung von Komposita mit Bindestrich bzw. Mediopunkt. Dies müsste mit empirischen Studien untermauert werden.

Ob Leichte Sprache neben ihrem eigentlichen Zweck, schriftliche Informationen verständlich zu machen, auch die Sprachkenntnisse von schon länger in Deutschland lebenden Migranten verbessern kann, erscheint mir fraglich. Viele grammatische Strukturen, wie z.B. Pronomen, Nebensätze, Genitiv, die Migranten Probleme bereiten, werden bei Leichter Sprache umgangen und durch reduzierte Formen ersetzt, so dass sie auch nicht durch Lesen eingeübt werden können. Einfache Sprache scheint mir eher dazu geeignet.

Bei allem Bemühen um eine Verbesserung der Sprachkenntnisse darf aber folgendes nicht vergessen werden: „Mehrsprachigkeit erzeugt einen anderen Modus der Sprachverarbeitung“, schreibt Hinrichs. Auch das Hin- und Herspringen zwischen zwei Sprachen im Gespräch, das sog. Codeswitching, das Migranten und mittlerweile auch deutsche Muttersprachler sehr effektiv betreiben, führt dazu, dass sich in zweisprachigen Gehirnen eher eine „Grammatik der dritten Art“ bildet, die sich von der Schulgrammatik der beiden Ausgangssprachen unterscheidet und diese unterläuft. Codeswitching kann laut Hinrichs auch ganz bewusst eingesetzt werden, um eine dritte, neue Sprachform hervorzubringen, und sogar identitätsstiftend sein. Diese Effekte scheinen mir sehr wirkmächtig zu sein und möglicherweise einer bereitwilligen Aneignung von „richtigem“ Deutsch entgegenstehen. Dann kann auch einfache Sprache vorrangig „nur“ dem Zweck dienen, schriftliche Informationen lesefreundlich aufzubereiten.

Und wenn einsprachige deutsche Muttersprachler unbewusst neue Sprachformen nachahmen und übernehmen, die durch Mehrsprachigkeit entstehen, verändert sich das, was man unter „richtigem Deutsch“ versteht. Regelmäßig wiederkehrende Fehler werden nicht mehr verbessert, weil man nicht mehr über die grammatisch vorgeschriebenen Formen nachdenkt bzw. diese gar nicht mehr beherrscht: „Ich hab das verliert, “ rief neulich ein kleines Mädchen auf der Rolltreppe hinter mir ganz erschrocken. Seine Mutter hat das nicht verbessert. Was heute sprachbewussten Menschen noch fehlerhaft erscheint, etabliert sich irgendwann zum neuen Standard. Dann sprechen vielleicht viele in Deutschland nicht mehr „gut“ Deutsch. Damit sind sie aber noch lange keine Zielgruppe für Leichte Sprache.

 

Quellen

Arnold, F.: „Das Deutsche wird flexibler“. Braunschweiger Zeitung, 28.12.2016

Bredel, U., u. Maaß, Ch.: Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen, Orientierung für die Praxis.  Dudenverlag Berlin, 2016

Hinrichs, Uwe: Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert. Verlag C.H. Beck oHG, München 2013

Marossek, Diana: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

 

© Bettina Mikhail 2017