Lange war Niedersachsen BITV-freie Zone. Am 20. September 2020 ist nun die Niedersächsische Verordnung über barrierefreie Informationstechnik öffentlicher Stellen (NBITVO) in Kraft getreten. Darin gibt es, im Gegensatz zur BITV 2.0, keine Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache. Ist das ein Fluch oder ein Segen für die Leichte Sprache in Niedersachsen?
Wir vom Verbund Leichte Sprache Braunschweig sagen: Besser eine einäugige Katze, die zum großen Sprung ansetzen kann, als ein zahnloser Tiger.
Der zahnlose Tiger
Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung BITV 2.0 vom 25. Mai 2019 setzt die Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen des Bundes um. Die BITV 2.0 von Mai 2019 verweist hinsichtlich des Standards zur barrierefreien Gestaltung von Informationstechnik auf die im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemachten harmonisierten Normen. Damit ist die EN 301 549 gemeint. Diese enthält keine explizite Forderung nach einem Angebot in Leichter Sprache. Gleichwohl enthält die BITV 2.0 seit 2011 eine Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache und hat diese Verpflichtung auch in der Neufassung von Mai 2019 beibehalten bzw. durch Punkt 3 ergänzt. Die BITV 2.0 verpflichtet nämlich in §4, auf Internetseiten und mobilen Anwendungen die folgenden Informationen in Leichter Sprache bereit zu stellen:
1. Informationen zu den wesentlichen Inhalten der Internetseite
2. Hinweise zur Navigation auf der Internetseite
3. Die wesentlichen Inhalte der Erklärung zur Barrierefreiheit
4. Hinweis auf ggf. weitere Informationen in Leichter Sprache.
Doch schauen wir mal genauer hin: Punkt 1 bedeutet nicht, dass die Inhalte selbst in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt werden müssen, sondern lediglich „Informationen zum Inhalt“, und Punkt 2 fordert „Hinweise zur Navigation“. Die BITV 2.0 verpflichtet lediglich dazu, in Leichter Sprache zu erläutern, wie man auf der Internetseite navigieren kann und auf die Inhalte zugreifen kann – die Inhalte selbst müssen nicht in Leichter Sprache angeboten werden. Die Zielgruppe der Leichten Sprache erfährt also, was sie auf der standardsprachlichen Internetseite lesen könnte, wenn sie denn in der Lage wäre, standardsprachliche Texte zu lesen (Bredel/Maaß 2016).
Beispiel: Eine Person, die auf Leichte Sprache angewiesen ist, wird in Leichter Sprache darüber informiert, dass sie sich unter dem Menüpunkt „Politik“ über die Arbeit der Stadtbezirksräte informieren könnte, wenn sie die in Standardsprache angebotene Information lesen könnte.
Sinn und Nutzen bleiben fraglich. Damit ist die BITV 2.0 ein zahnloser Tiger. Umfassende kommunikative Teilhabe wird dadurch nicht gewährleistet. Um ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen, investieren öffentliche Stellen des Bundes viel Geld (und Dienstleister für Leichte Sprache viel Arbeit) in ein absurdes, rudimentäres Angebot in Leichter Sprache, das keinem wirklich hilft.
Für Bundesländer und Kommunen werden die Vorgaben zur Barrierefreiheit der Informationstechnik öffentlicher Stellen über Landesgesetze und länderspezifische Verordnungen geregelt. Einige orientieren sich dabei auch an den Vorgaben zur Leichten Sprache, wie sie die BITV 2.0 fordert. Niedersachsen tut dies nicht.
Schlag ins Gesicht
Die Niedersächsische Verordnung über barrierefreie Informationstechnik öffentlicher Stellen (NBITVO) verzichtet auf eine Verpflichtung zur Leichten Sprache. Warum? Offenbar hat das Land Niedersachsen nur das minimal Nötige in seine Verordnung aufgenommen – und sich dabei gemäß Verweis der BITV 2.0 an der europäischen Norm EN 301 549 orientiert. „Da in dieser europäischen Regelung eine Verpflichtung zur Erstellung von Inhalten in Leichter Sprache nicht vorgesehen ist, ist dies auch in der NBITVO nicht geregelt“, teilte uns das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung am 2. Juni 2021 mit. Nicht nur der Verbund Leichte Sprache Braunschweig ist der Meinung, dass zu barrierefreier Informationstechnik unbedingt ein Angebot in Leichter Sprache gehört.
Öffentliche Stellen nicht dazu zu verpflichten, wirft die gesetzliche Verankerung der Leichten Sprache in Niedersachsen um Meilen zurück und ist ein Schlag ins Gesicht für die 2,2 Millionen Niedersächsinnen und Niedersachsen, die auf diese verständliche Sprachform angewiesen sind (Personen ab 15 Jahren, hochgerechnet aus der LEO-Studie, Universität Hamburg 2018). Statt zumindest die in §4 der BITV 2.0 genannten Anforderungen zu übernehmen, wie es viele andere Bundesländer getan haben, oder wünschenswerterweise noch weitergehende Verpflichtungen aufzunehmen, fällt die Leichte Sprache in der Niedersächsischen Verordnung komplett unter den Tisch. Die NBITVO ist eine einäugige Katze – auf einem Auge blind.
Verborgene Chance
Aber kann diese Katze nicht gerade deshalb zum großen Sprung ansetzen? „Selbstverständlich bleibt es öffentlichen Stellen in Niedersachsen dennoch unbenommen, ein Angebot in leichter [sic] Sprache bereitzustellen, wie dies auch an vielen Stellen bereits geschieht“, fügte das Ministerium in seiner Antwort vom 2. Juni 2021 hinzu. „Eine Ausdehnung von Angeboten in leichter [sic] Sprache ist wünschenswert und wird in der niedersächsischen Landesverwaltung zum Beispiel durch Maßnahmen im Aktionsplan Inklusion vorangetrieben“.
Genau da liegt unserer Meinung nach eine große Chance für die öffentlichen Stellen in Niedersachsen. Sie müssen kein Geld für das von der BITV 2.0 geforderte (absurde) Angebot in Leichter Sprache ausgeben, sondern können Kreativität und finanzielle Mittel in die Bereitstellung eines sinnvollen inhaltlichen Angebots in Leichter Sprache stecken. Unser Appell an alle öffentlichen Stellen in Niedersachsen lautet daher: Gehen Sie eine freiwillige Selbstverpflichtung ein und gewährleisten Sie echte kommunikative Teilhabe durch ein qualitativ hochwertiges, inhaltliches Angebot in Leichter Sprache auf Ihren Internetseiten und mobilen Anwendungen. Getreu dem Landesmotto: „Niedersachsen. Klar.“
Quellen:
BIK für Alle, Gesetzgebung und Standards , Zugriff 07.06.2021
Bredel, U. & Maaß, C., Duden Leichte Sprache, S. 76-79, Duden 2016
Bundesfachstelle Barrierefreiheit, Die neue BITV 2.0 , Zugriff 03.06.2021
Level-One-Studie/2018 der Universität Hamburg
Mikhail, B. & Markwort, M.: Barrierefreiheit nach BITV 2.0: Wie hilfreich ist die BITV 2.0 für die Leichte Sprache auf Internetseiten?
Blogbeitrag vom 01.07.2020